Bündnis Sahra Wagenknecht: Ein seltsames Trio (2024)

Fabio De Masi und Thomas Geisel sollen Sahra Wagenknechts Partei ins Europaparlament führen. Politisch haben sie kaum etwas gemein – das ist Strategie.

Von Lisa Caspari, Hamburg und Hannover

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Fabio De Masi schafft es schnell, sein Publikum in Laune zu bringen. "Viele Leute haben das Messer in der Tasche offen", ruft der Politiker des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei seinem ersten Wahlkampfauftritt auf dem Hamburger Fischmarkt. Er meint damit: Die Deutschen hätten mächtig Brass auf die Ampelregierung: "Es kann nicht sein, dass wir Milliarden Euro in Rüstungsausgaben verplempern und die Bahn nicht mehr fährt und unsere Kinder nicht mehr ordentlich rechnen und schreiben können." Gejohle im Publikum.

Es ist ein sonniger Tag Mitte Mai, zur Auftaktveranstaltung des BSW zur Europawahl vor schönster Hafenkulisse sind ein paar Hundert Zuschauer gekommen. Nicht schlecht für eine neue Partei, die gerade einmal vier Monate alt ist. De Masi, ein ehemaliger Bundestagsabgeordneter der Linken, ist Wagenknechts Spitzenkandidat zur Europawahl. Und weil die Limousine der Chefin aus Berlin bislang nicht da und dies seine erste große Wahlkampfrede ist, sieht De Masi es offenbar als seine Aufgabe an, dem Publikum ordentlich einzuheizen.

Das mit dem offenen Messer in der Tasche ist allerdings eine ziemlich irritierende Metapher – nur Tage nach den brutalen Angriffen auf einen SPD-Kandidaten in Dresden und die SPD-Wirtschaftssenatorin in Berlin. Beide Opfer mussten im Krankenhaus behandelt werden. Die Sorge vor weiteren Attacken ist offenbar so groß, dass die Hamburger Polizei mit einem größeren Aufgebot als normalerweise vor Ort ist, um die kleine Wagenknecht-Kundgebung zu schützen.

Die Europawahl ist für das BSW "nicht ganz einfach"

Zündelt das BSW? Die Partei würde einen solchen Vorwurf weit von sich weisen. Im Gegenteil: Man sei erfolgreich dabei, die Wut der Menschen in die richtige Richtung zu leiten. Eine Stimme für das BSW bei den anstehenden Wahlen – statt für die AfD. Endlich gebe es eine "seriöse Alternative zu diesem Wahnsinn", so formuliert es De Masi bei seinem Auftritt.

Die Europawahl am 9. Juni ist aber auch eine Bewährungsprobe für das BSW: Es ist die erste Abstimmung, bei der die neue Partei bundesweit auf dem Wahlzettel steht – und zwar zum Bedauern der Verantwortlichen sehr weit unten, auf Platz 28. Da muss man laut sein und auffallen, Schimpfen auf die Ampel hilft dabei mehr als eine europapolitische Agenda. "Die Europawahl ist für viele Menschen weit weg und für uns nicht ganz einfach", das gibt Parteigründerin Wagenknecht ganz offen zu. Im Osten mag das Bündnis Sahra Wagenknecht in Umfragen zweistellig sein und bereits vom Mitregieren träumen, aber bei der EU-Wahl steht es bei fünf bis sieben Prozent. Enttäuschende Werte für eine Partei, die angekündigt hat, das bundesdeutsche Parteiensystem zum Erbeben zu bringen. Leider interessierten sich potenzielle Wählerinnen und Wähler des BSW wenig für Europa, so lautet die Analyse der Partei.

Bis zum 9. Juni müssen daher auch die beiden Spitzenkandidaten noch an ihrer Bekanntheit arbeiten: Neben De Masi ist das Thomas Geisel, der auf Listenplatz zwei kandidiert. Der 60-Jährige war sechs Jahre Oberbürgermeister von Düsseldorf, zuvor 15 Jahre in "leitenden Funktionen in der Energiewirtschaft tätig", wie er sagt – und 40 Jahre SPD-Mitglied. Der hyperaktive De Masi und der bürgerlich auftretende Geisel, sie sind ein ungleiches Paar.

Kämpfer gegen Finanzkriminalität

De Masi ist 44 Jahre alt, ein Wagenknecht-Getreuer, der für die Linkspartei drei Jahre im EU-Parlament und vier Jahre im Bundestag saß. Er sieht sich als unermüdlicher Kämpfer gegen das Unrecht, das er beinahe überall identifiziert: Steueroasen, unlautere Deals mit Coronamasken, die verschwundenen Wirecard-Millionen, Scholz Erinnerungslücken im Cum-Ex-Skandal. Ein klassischer Linker, dachte man bisher: Schließlich hat sich De Masi der Aufgabe verschrieben, unlautere Praktiken der Reichen und Privilegierten offenzulegen, im Wirecard-Untersuchungsausschuss im Bundestag trieb er die Ermittlungen quasi im Alleingang voran. Der Diplom-Volkswirt lebt zwischen Südafrika und Deutschland, schrieb zuletzt hauptberuflich Bücher über Finanzkriminalität. In der Übergangsphase bis zum erhofften EU-Mandat hat er gerade einen Job als Referent für die BSW-Gruppe im Bundestag angenommen, auch um sein Konto wieder aufzufüllen.

Geisel hingegen, gut 20 Jahre älter, strahlt mehr Ruhe aus. An diesem sonnigen Wahlkampftag Mitte Mai tritt er auf dem Opernplatz in Hannover auf, vor deutlich bürgerlicherem Publikum. Anders als De Masi spricht er gediegener und umständlicher, um die großen Linien bemüht: "Viele Menschen sind enttäuscht, was aus unserem Land in den vergangenen 25 Jahren geworden ist." 1976, unter Helmut Schmidt, habe die Welt Deutschland bewundert, heute sei die Bundesrepublik ein "Sanierungsfall". Nach der Wende habe man noch gemeinsam mit Michail Gorbatschow vom "Haus Europa" geträumt, der Freundschaft der Völker, Russland einbegriffen. Heute drohe der nächste heiße Krieg.

Bekennender Anhänger von Schröders Agenda-Politik

Geisel ist ein geselliger Mensch, im Wahlkampf um das Oberbürgermeisteramt, scheute er auch vor Homestorys nicht zurück: Vor Jahren bestaunte mal eine Lokalzeitung das teure Klavier in Geisels Düsseldorfer Wohnzimmer, auch die Modelkarriere seiner Ehefrau war Thema im Boulevard. Politisch definiert sich Geisel als "Sozialdemokrat alter Schule": bekennender Anhänger der Agenda 2010 von Gerhard Schröder und von Sanktionen für faule Bürgergeldempfänger. "Bürgergeld plus Schwarzarbeit", das dürfe in Deutschland kein Modell werden, sagt er. Nach der Wende arbeitete Geisel einige Jahre für die Treuhand – dass er bei seiner Wahl zum Spitzenkandidaten auf dem Parteitag im Januar auch ein paar Gegenstimmen bekam, schiebt er darauf. Vor seinem Einstieg in die Politik im Jahr 2013 war er oberster Erdgaseinkäufer der Ruhrgas AG.

Wollte man zuspitzen, man könnte sagen: Geisel war in seinem Leben mehr Chef als der Kämpfer gegen "die da oben", als der sich De Masi definiert.Was treibt diese so unterschiedlichen Männer dazu an, sich beim BSW zu engagieren?

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